
Was wir sind, sind wir durch die Menschen geworden, die uns geprägt haben. Dieser Satz aus dem Politikunterricht fiel mir ein, als ich mich mit Mehr Demokratie wagen in Verbindung mit Willy Brandt beschäftigte.
Hat der Altkanzler unser Verständnis von Demokratie geprägt und uns Mut zum Wagnis für mehr Demokratie mit auf den Weg gegeben? Ich habe mich auf Spurensuche begeben: Schlägt man die Geschichts- und Politikbücher auf, so wagte Willy Brandt als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundeskanzler Deutschlands mehr Demokratie. Er durchbrach die Mauer alten Denkens und setzte sich mit den kommunistischen Regierungen der DDR und der UDSSR an einen Tisch. Er wollte eine schreckliche Mauer zu Fall bringen, an der Menschen sterben mussten, die zueinander wollten. Das hat ihm viele Anfeindungen eingebracht.
Zu seiner Persönlichkeit gehörte seine Glaubwürdigkeit. Sie ließ ihm die Herzen der Menschen zufliegen. Er wagte auf verschiedenen Ebenen mehr Demokratie und stand deshalb als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland für ein anderes, ein besseres Deutschland.
Auf internationaler Ebene konnte Willy Brandt durch sein Wagnis für mehr Demokratie bei der Überwindung der Ost-West-Konfrontation deutlich machen, dass Friedenssicherung am ehesten durch Zusammenarbeit und mehr Gerechtigkeit gelingt.
Wir haben Willy Brandt erlebt, wie er mehr Demokratie wagend kühne Vorstöße unternahm zur Anerkennung der Rechte der Palästinenser und einer Nahost- und Friedensregelung ohne Tabus. Er traf sich in Wien mit Jassir Arafat (1979), dem Vorsitzenden der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die damals allgemein noch als Terrororganisation betrachtet wurde. Ein Signal für einen Nahost-Friedensplan, der nicht nur die israelischen Sicherheitsbedürfnisse, sondern auch die Rechte der Palästinenser berücksichtigte.
Willy Brandt wagte mehr Demokratie als er sich um Offenheit der SPD zur Frauen- und Friedensbewegung bemühte. Er verknüpfte seine Spitzenkandidatur für das erstmals direkt gewählte Europäische Parlament mit der Forderung, dass 25 Prozent Frauen auf der SPD-Liste vertreten sein sollten.
Blicken wir auf Willy Brandts Vermächtnis, so wird deutlich, er hat die Sozialdemokratie durch sein mutiges Wagnis für mehr Demokratie entscheidend geprägt. Politisch faszinierend ist für mich, dass er bereit war, um seiner politischen Überzeugungen willen, sein eigenes Schicksal, seine eigene politische Zukunft einzusetzen. In diesem Sinne wagen wir als Sozialdemokraten mehr Demokratie, wenn wir erstmals die Mitglieder über einen in Berlin fertig ausgehandelten Koalitions-Vertrag entscheiden lassen. Wir wagen mehr Demokratie, weil niemand- und schon gar nicht nach dem Parteitag in Leipzig einschätzen kann, wie sich 473 000 Mitglieder zum ausgehandelten Koalitions-Vertrag mit ihrer Stimmabgabe verhalten werden.
Der Bundesparteitag hat mir deutlich gemacht, dass unsere Zusage zur Neuauflage der großen Koalition an klare Bedingungen geknüpft ist wie zum Beispiel eine Rentenreform, die gewährleistet, dass Menschen die lange gearbeitet haben, ohne Abschläge mit 63 Jahren in Rente gehen können. Einer Mogelpackung würden die SPD-Mitglieder ganz sicher nicht zustimmen. Mit dem Mitgliedervotum wagen wir Sozialdemokraten nicht nur mehr Demokratie, wir entwickeln neues demokratisches Denken, Reden und Handeln. Noch nie hat eine Partei einen ausgehandelten Koalitionsvertrag ihren Mitgliedern zur Abstimmung vorgelegt. Persönlich habe ich großes Vertrauen zu unseren Mitgliedern, dass sie sehr genau den Koalitionsvertrag prüfen werden und dann die richtige Entscheidung treffen. Als Sozialdemokraten reden wir nicht nur von mehr Demokratie, wir wagen auch mehr Demokratie.